In Gemeinschaft Wachsen

Ideen, Gedanken und Beobachtungen als Anregung zum offenen Dialog

Wer sind „die“ und wer sind „wir“?

„Die“ machen doch eh mit „uns“ was sie wollen. Merkst Du nicht, wie „die“ uns ausnutzen? Du hast doch heute keine Chance mehr gegen „das System“. …Annähernd jeden Tag höre ich solche Sätze. Es sind verzweifelte Versuche in unsere chaotische Welt wieder überschaubare Strukturen zu schaffen, es ist aber auch das Material wovon Populismus lebt. Man findet es in allen politischen Richtungen und allen Gesellschaftsschichten. Es ist einfach der Versuch eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu schaffen, die es so gar nicht gibt. „Wir“ sind die gleichdenkenden (davon muss es doch viele geben, ich kann ja nicht alleine so empfinden), „die“ sind die, die uns unterdrücken. So sehr wir damit versuchen für uns Sicherheit zu schaffen, so schädlich ist es leider für unsere Gesellschaft. Ich möchte ein Beispiel nennen: unser komplexes Steuersystem (sicher ein polarisierendes Thema): „Es kann ja nicht sein, dass uns so viele Milliarden verloren gehen, wegen all den Steuerhinterziehern.“ Mit wir meinen wir hier alle rechtschaffenen Bürger und die Steuerhinterzieher, sind vermeintlich Reiche, die alle Möglichkeiten nutzen um noch reicher zu werden. So läuft der innere Dialog. Also machen wir alle vermeintlichen Schlupflöcher zu. Ich hab in den letzten Jahren von keiner Buchprüfung gehört, bei denen der Geprüfte nicht größere Summen nachzahlen musste. Nicht weil diese versucht haben zu bescheißen, sondern weil inzwischen gilt: was nicht einwandfrei nachgewiesen werden kann, ist automatisch Betrug oder wird zumindest so behandelt. Jeder Selbstständige kennt das, man steckt jährlich mehr Zeit und Geld in die Buchhaltung und hat dennoch das Gefühl es nicht ausreichend richtig zu machen. Selbst Steuerberater, eigentlich die Begünstigten der Entwicklung, ächzen darunter. Das Problem ist: all das hinterlässt Opfer und Opfer werden nach meiner Erfahrung immer zu Täter. Der nächste Schritt ist dann: „Man hat ja keine andere Chance als zu bescheißen!“ Nach dem Motto: wenn die mir eh 10% als Betrug ankreiden, kann ich ja auch einiges machen, was dann vielleicht unbemerkt bleibt und meinen Verlust zum Teil wieder ausgleicht. Und weil das wieder zu Steuerfehleinnahmen führt, versuchen wir hier wieder Mittel zu finden das zu unterbinden. Womit sich der Kreis schließt. Leider ist es aber eine Spirale, denn was zugenommen hat, ist die Frustration. Im Übrigen: das gleiche Denken ist auch bei den reicheren Bevölkerungsschichten vorhanden, der einzige Unterschied ist, dass diese vielleicht ein paar Möglichkeiten mehr haben.

Ich hatte neulich ein Telefonat (ich schreib jetzt nicht mit welchem Finanzamt, um die Person dort nicht in Bedrängnis zu bringen), welches eine interessante Wendung nahm. Ich bat um einen zeitlichen Aufschub, den ich aber nicht bekam. Als die Frau merkte, dass ich ihr dafür nicht böse war, sondern Verständnis für ihr Handeln aufbrachte, begann Sie ihre Situation zu erklären: Das sie stetig Ermahnungen für erteilte Sondererlaubnisse bekommt, dass der Druck der Behörde immer größer wird, etc. Und zum Schluss brachte sie den bemerkenswerten Satz: „Wissen Sie früher hatten wir alle Angst vor der Stasi und deren Kontrollmöglichkeiten, aber glauben sie mir, das hier ist schlimmer!“ Ich bitte darum zu bemerken, wie sie das „wir“ definierte: da war ich eingeschlossen und „die“ waren die nicht näher benannten höher stehenden Behördenbeamten oder mal wieder das System. Zuletzt gab sie mir noch einen Tipp, wie ich mich doch noch durchmogeln könnte.

Ich glaube wir sind damit gesellschaftlich auf dem falschen Weg und ich denke es fängt beim „wir“ und „die“ denken an. Und weil ich weiß, dass man das Große nicht so einfach abändern kann, braucht es die Veränderung im Kleinen. Wir können nicht einfach weiter voranschreiten und uns um die komplexen Themen drücken. Wir müssen beginnen zu versuchen die jeweilige Gegenpartei in ihrem Handeln zu begreifen. Gemeinsam heißt sich miteinander auseinanderzusetzen. Und wenn wir die Bereitschaft dazu haben, müssen wir in den offenen Dialog treten. Wir schaffen doch nur dann Regeln, wenn wir es nicht schaffen uns so zu einigen. Das beginnt beim Baum an der Grundstücksgrenze zum Nachbar dessen Laub oder Früchte zum Streit führen und geht weiter bei der Lärmbelästigung durch Fahrzeuge, Maschinen, Kinder oder Musik. Wer offen und ehrlich versucht das gemeinsam zu bewältigen, braucht keine Regeln, Richter oder Polizei. Wir sind doch unsere eigenen Fallensteller, wenn wir immer für 2% der Gruppe, die auffällig werden, Regeln schaffen, die dann 98% der Gruppe bestrafen. 2003 hatten wir alleine in der Bundesgesetzgebung 45.511 Paragraphen, 2009 waren es schon 76.382 (Quelle: Wikipedia)! In der Zeit nahm aber weder das Sicherheitsgefühl, Wohlbefinden oder Gerechtigkeitswahrnehmung zu. Lasst uns also aufhören über „die“ zu schimpfen und unser „wir“ als eine Gruppierung unterschiedlicher Individuen zu verstehen, mit denen wir gemeinsam bei gegenseitigem Verständnis wieder zusammenrücken können.

Zu dem „wir“ habe ich aber noch eine Erkenntnis, die ich bei Gerhard Hüter (in Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher) gelesen habe: Neurobiologisch, gibt es eine Gehirnregion/- verknüpfung für das „wir“-Verständnis, die wir stetig durch Erfahrungsaustausch an die nächste Generation weitergeben und die dabei unaufhaltsam wächst. So hat das „wir“-Verständnis bei unseren Ur-Großeltern meist schon am Gartenzaun geendet, während es heute schon oft üblich ist, dass wir von „uns Europäern“ reden. Also noch ein paar Jahrzehnte und wir verstehen uns endlich in erster Linie als „Menschen“ und dann erst einer Nation zugehörig. Wenn wir es dann noch schaffen uns als Individuen zu verstehen, kommt eine glanzvolle Zukunft, für die es zu kämpfen lohnt auf uns zu!

Und noch ein kleiner Zusatz: Um unser privates „wir“ zu steigern und noch mehr in Dialog zu gehen, haben wir begonnen monatlich ein Filmabend für alle Interessierten zu machen. Hier wollen wir einen gesellschaftlich, alternativen Film mit allen anschauen, die ebenfalls bereit sind, wieder in kleinen Schritten aufeinander zuzugehen. Anschließend soll es ein gemütliches Austauschen geben. Wer also Interesse hat, unter Termine findet Ihr jeweils unser nächstes Treffen!

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